Was bleibt, ist eine Ahnung. Eine Ahnung, wer wir sind, vielleicht auch eine Ahnung, wer wir sein werden. Ich habe @poetin einen wundervollen Blogeintrag gelesen, der mich bewegt und sehr nachdenklich gemacht hat. Die Idee geht zurück auf @mitnichten
Warum erscheint es mir wichtig, Dinge mit einer anonymen Öffentlichkeit zu teilen? Diese Frage wird mir immer wieder gestellt und ich suche immer wieder nach einer Antwort. Abgesehen davon, dass es mir einfach Freude macht, mehr über Menschen und ihre Art zu denken, zu leben, zu lieben zu erfahren und diese Informationen im Austausch auch zu geben, halte ich es für grundsätzlich wichtig. Viele Leben wirken so geradeaus, sorglos, viele Menschen so stark. Aber jede Biographie hat ihre Brüche – und wenn man diese teilt, macht man denen Mut, die glauben, so etwas sei noch niemandem widerfahren. Mich stützen eure Geschichten und begleiten mich. Hier ist meine – ungebremst und unkürzbar.
Ich habe einen kleinen Finger, der perfekt zu meiner Hand passt, aber einzeln betrachtet aussieht, als wäre er mehrfach gebrochen. Ich bin Lehrerin aus Leidenschaft, aus Liebe zu den Geschöpfen, die in unserer so wohl behütenden Gesellschaft übersehen, getreten, geschlagen und ausgelacht werden – oder die einfach unsichtbar sind. Ich möchte die Welt ein bisschen besser machen durch meine Existenz.
Ich habe fünf Jahre meines Lebens in Schwimmhallen verbracht und auch, wenn ich heute noch von der erlernten Technik profitiere, waren all die Wettkämpfe das Sinnloseste und Unbefriedigendste in meiner Kindheit. Konkurrenzdenken liegt mir fern, ebenso der unbedingte Wille zu gewinnen. Ich kann gut verlieren. Ich bin unordentlich, aber nicht chaotisch, kruschtelig, aber nicht dreckig. Ich höre immer noch zu sehr auf das, was meine Eltern sagen und denken, obwohl ich weiß, dass mein Anderssein nicht schlechter ist. Ich wurde vielleicht in die falsche Familie geboren, auch wenn ich sie liebe. Ich hatte einen Menschen in meinem Leben, der wusste, wer ich bin, der mich bedingungslos liebte für mein ganzes Sein, für den ich etwas Besonderes war, allein durch meine Existenz. Dieser Mensch hat uns letztes Jahr verlassen. Ich habe ein Gefühl für den Toten, wenn ich an einem Grab stehe – und ich kann mit ihm sprechen, aber nicht so, wie man sich das vorstellt. Ich bin ein Medium und ich habe lange gebraucht, um diesem Gedanken in meinem analytisch geprägten Gehirn ein Zuhause zu geben. Ich bin Zweifler, Ver-Zweifelnde und zugleich gnadenlos optimistisch. Bevor ich in ein Auto steige, denke ich an einen Unfall, bevor ich das Haus verlasse, an den Tod und bevor ich mich von einem Menschen verabschiede, überlege ich, wie es sein wird, ihn nie wiederzusehen. Ich denke immer über alles nach. Ich lebe in der Vergangenheit, richte mein Sicherheitsbedürfnis ganz auf die Zukunft aus und genieße den Moment. Das Gleichgewicht zu halten fällt mir schwer.
Ich habe mehrere Ehrenämter gehabt und manche habe ich bis heute. Ich kann hervorragend Blockflöte spielen, außerdem ganz passabel Gitarre, Cello und Querflöte, letzteres brachte ich mir selbst bei. Ich habe in vielen verschiedenen Chören und Musikprojekten mitgewirkt und zwei Jahre Gesangsunterricht genommen. Dies waren zwei sehr gute Jahre. Ich habe keine Angst vor einem Ball, aber ich kann nicht Fußball spielen, Basketball, Handball, Volleyball dagegen schon. Ich habe mehr in 33 Jahren gemacht, als so mancher in seinem ganzen Leben, aber ich kann und will nicht aufhören zu lernen und Neues zu entdecken. Ich bin wissbegierig. Manchmal habe ich das Gefühl, etwas drängt mich zur Eile, aber das ist vielleicht nur so ein Gefühl. Ich dachte lange, ich sterbe, bevor ich 30 werde. Jetzt bin ich über diesen Punkt hinweg und immer noch am Leben.
Ich habe Angst vor neuen Gebäuden und damit verbundenen Erledigungen und ich weiß gerne, wie es bei jemandem daheim aussieht, wenn ich mit ihm telefoniere. Seit ich in der Schule arbeite, lese ich kaum noch und mache fast nie Musik. Ich glaube, all die Menschen, mit denen ich zu tun habe, nehmen mir Energie und Kreativität. Ich habe kaum noch ernsthafte Kontakte, weil ich keine Zeit und Kraft habe, sie zu pflegen. Die wenigen, die bleiben, wissen aber um dieses Phänomen und verstehen. Ich halte Verständnis für das Universalmittel zur Heilung der Menschheit, kenne aber viele, die nicht einmal das verstehen. Ich hasse offene Aggression, ob bei Mensch oder Tier, aber ich habe gelernt, meiner Wut manchmal freien Lauf zu lassen und nicht immer alles zu schlucken, um eine brave Tochter oder ein wohlerzogener Mensch zu sein. Ich kann kein Blut sehen und keine Horrorfilme. Ich kann Sachbücher über Serienmörder und ihre Abscheulichkeiten lesen, muss bei einem zu schrecklichen Film jedoch das Zimmer verlassen oder umherlaufen.
Ich hatte noch nie einen richtigen Autounfall trotz einer Fahrleistung von 40.000km im Jahr. Ich liebe es, mit lauter Musik, offenen Fenstern und Zigarette in der Hand zu fahren. Ich wäre gerne Nichtraucher und war es ein Jahr lang. Ich habe in meiner Kindheit Schlimmes erlebt und in einer Therapiephase festgestellt, dass sich dieses Schlimme als dunkle Blockhütte auf der Wiese meines Lebens manifestiert hat. Ich war zweimal in meinem Leben depressiv und habe aus dieser Hölle alleine wieder herausgefunden. Ich habe jeden Tag an Selbstmord gedacht, ich wollte einfach meine Ruhe haben. Das dritte Mal kurz vor dem Absinken ins Dunkel suchte ich mir Hilfe bei meinem Hausarzt – und bekam sie. Ich wirke angstfrei und unbekümmert, wenn ich vor großen Menschenmassen spreche und kann sie gut unterhalten. Dabei sieht niemand, wie meine Hände zittern, wie mein Puls rast und wie viel Übung es mich gekostet hat, das Offensichtliche zu verbergen.
Ich kann die Dinge auf den Punkt bringen und zugleich sehr ausschweifend werden. Ich bin mein schlimmster Kritiker und ich war jahrelang mein größter Feind. Die Versöhnung, die stattgefunden hat, tat gut. Ich bin nicht dick, ich bin fett. Ich meine nicht so ein bisschen mit Pölsterchen oder so, sondern richtig. Ich bin die, über die ihr immer lacht, wenn ihr einen Fettenwitz lest – und ich weiß, warum ich so bin. Es gibt viele Komponenten, die hineinspielen, und keine einzige hat etwas mit meinem Willen abzunehmen zu tun oder mit meinem Wissen über Ernährung. Ich habe fast 20 kg abgenommen und war immer noch zu fett, als ich das nächste Mal in eine Krise kam, habe ich all die harte Arbeit von 2 Jahren in 5 Monaten zunichte gemacht. Nicht ich, sondern das, was mich steuert. Ich halte mein Gewicht seit 4 Jahren und das ist für mich eine immens große Leistung. Ich habe eine Fahrradtour gemacht und bin ich 9 Tagen 730 km von Düsseldorf ins Allgäu geradelt – allein. Seit dieser Zeit weiß ich, ich habe vielleicht nicht den schönsten Körper, aber den tollsten. Ich habe meinen Frieden mit diesem Thema gemacht, auch wenn er manchmal bei zu vielen Spiegeln brüchig wird.
Ich habe einmal diesen Kontinent verlassen und es war großartig. Ich habe einen Tauchschein und würde niemals an einem Gummiseil in den Abgrund springen. Ich fahre gern schnell, oft auch ein bisschen zu schnell. Mein erstes Mal hatte ich mit 20 und es war gut. Ich trinke kaum Alkohol und ich mag keine großen Feiern, besonders dann nicht, wenn mein Geburtstag der Anlass sein soll. Ich finde betrunkene Menschen abstoßend und habe nie gekifft oder andere illegale Drogen genommen. Eine tolle Unterhaltung mit einer Person in einem gemütlichen Cafe ziehe ich jederzeit einem großen „Event“ vor. Ich bin offen, wenn ich auf Menschen treffe, die ich mag – und ich gebe viel von mir Preis. Viele Leute denken, sie kennen mich gut, dabei kennen sie nur einen winzigen Ausschnitt und wissen nichts über all das, was ich nicht sage.
Ich versuche mir meine Fehler nicht allzu lange selbst vorzuhalten und weiß vom Kopf her, dass Versagen zum Leben dazu gehört. Trotzdem hasse ich es und entwickle einen Feuereifer, um etwas besser zu machen. Nicht perfekt, aber meinen Maßstäben getreu. Viele denken, ich sei ehrgeizig, aber das bin ich nicht. Es ist dieser Wunsch, etwas einmal nur gut genug zu machen, bei dem ich bisher immer versagt habe. Oder der Reiz einer Aufgabe. Viele Aufgaben habe ich übernommen, weil ich wusste, ich kann es besser als der, der es gerade macht – ohne dabei ein Triumphgefühl zu verspüren. Ich wirke manchmal zu sehr von mir selbst überzeugt, arrogant, überheblich, unnahbar, kühl, reserviert und es trifft mich immer noch, wenn ich so falsch eingeschätzt werde. Aber ich arbeite daran, dass mir die Meinung anderer immer weniger bedeutet. In meinen Augen kann man sehen, wer ich wirklich bin. Ich kann wie eine Löwin für die kämpfen, die ich liebe, aber ich tue es nicht mehr, wenn es nicht gewollt ist. Ich habe unendlich viel Liebe zu geben. Ich habe in meinem Leben zwei Männer gleichzeitig geliebt, jeden auf seine Weise. Es hat mich fast zerrissen, meine Gefühle verheimlichen zu müssen und beiden habe ich weh getan. Ich habe nie etwas in einem Kaufhaus gestohlen, aber meinen Eltern Kleingeld aus der Brieftasche entwendet. Ich habe Internettagebuch geführt und bin dadurch eine unfreiwillige Dorfgeschichte geworden. Ich bin aus diesem Dorf weggezogen und habe damit abgeschlossen. Trotzdem lasse ich mir das offene Wort nicht nehmen. Weil ich ich bin.
Ich weiß, was es heißt, Freundschaften aufzugeben und neue zu beginnen. Ich kann mit Kritik, die sachlich ist und möglichst positiv formuliert wurde, sehr gut umgehen, nicht aber mit Unsachlichkeit oder einem Vermischen von Sach- und Gefühlsebene. Keiner hat das Recht, mich auf persönlicher Ebene anzugreifen, nur weil ihm meine Art zu arbeiten/zu leben/zu sein nicht gefällt. Ich kann nicht für mich eintreten, wenn Menschen mir unfaire Dinge an den Kopf knallen, und ich habe großen Respekt oder auch fast schon Angst vor Autoritäten.
Ich war sehr gläubig. Ich bin offener geworden. Ich habe angefangen, meine verletzliche Seite zu zeigen, seitdem weine ich weniger. Ich halte Diskussionen nicht für sinnlos, auch wenn sie ohne Ergebnis bleiben. Ich bin witzig, wenn der Zeitpunkt passt. Ich mag Tiere, manche liebe ich sogar. Ich habe zwei Monate vegetarisch gelebt, mehr geht nicht, obwohl ich weiß, was ich Tieren damit antue. Meine Angst vor Spinnen ist deutlich abgeklungen, dafür bekomme ich Panik bei Kakerlaken. Ich verändere mich mit jedem Tag und doch bleibt etwas gleich. Ich trage ein bezauberndes kleines Mädchen in mir, das viel zu viele Regeln und korrekte Verhaltensweisen und viel zu wenig Freiheiten kannte, bevor ich sie traf. Und der Dinge angetan wurden, die bis heute nicht über meine Lippen kommen.
Ich ändere etwas, wenn ich unzufrieden bin, auch wenn das steiniger Weg ist. Und ich bin davon überzeugt, dass das jeder kann, aber nicht jeder will. Manches Leiden ist selbst gewählt. Manchmal denke ich mir, meine Welt wäre eine bessere, wenn einige Menschen tot wären, doch dann erinnere ich mich daran, dass jeder Mensch so lebt und liebt, wie es in seiner Macht steht – und ich lasse diesen unfairen Wunsch los. Ich bin widersprüchlich. Ich kann gut festhalten und übe mich im Loslassen und einer gewissen „scheißegal“- und „du kannst mich mal“-Haltung. Ich versuche, die Eiche zu sein, die es kalt lässt, wenn die Sau sich daran kratzt. Trotzdem bin ich froh, dass ich die Sensible in mir nicht mundtot machen kann.
Ich werde mit jedem Lebensjahr freier. Ich werde mit jedem Lebensjahr mehr ich selbst. Ich gehe immer im Wiegeschritt in das Morgen, Gestern und heute – zwei vor, einen zurück.
Ich mag mein Leben. Mein Sein. Ich mag mich. Sehr. Vor fünf Jahren hätte ich so etwas nicht schreiben können.